St. Petersburg Blues

Veröffentlichung in der taz, April 1999.

Wir landen, und es sind über dreißig Grad, und es ist sehr feucht dort, am Finnischen Meerbusen, einem ehemaligen Sumpfgebiet, in das Peter der Große einfach diese wunderschöne Stadt gebaut hat. Es ist die Zeit der Weißen Nächte. Nächte, in denen es nicht dunkel wird. Nächte, in denen gefeiert wird. Nächte, in denen niemand so richtig zu Ruhe kommt. Wir fahren mit dem Bus vom Flughafen ins Zentrum. Durch Plattenbausiedlungen. Marode, das angelegte Grün drumherum ist verwildert. Auf einer Wiese liegen Menschen in Badeanzügen. Sie laufen darüber, schütteln eine Decke zurecht, sonnen sich, flimmern dort. Die Zeit steht, nur die Natur wächst weiter.
Die nächste raus. Wir fahren dort weiter mit der Metro", sagt Leo. Er ist hier aufgewachsen. Sieben Jahre in der Innenstadt, elf Jahre im Plattenbau. Dann wieder ins Zentrum, als er aus der Armee zurückkam. 'Wie ein Tier', wie er selber sagt. Gorbatschow war gerade an die Macht gekommen. Perestroika. Leo hat versucht, mit seinen 'Heavy-Metall-Freunden' die neue Freiheit zu leben. Nachdem er zwei Mal fast totgeschlagen wurde, ist er vor sechs Jahren als osteuropäischer Kontingents-Flüchtling nach Deutschland emigriert. Leonid Jakowlewitsch Elison, Jahrgang 65, ist Jude, 'Heavy-Metall-Jude'. Im Gegensatz zu seinen Freunden konnte er Russland verlassen. Drei Jahre ist er nicht mehr in St. Petersburg. gewesen. Heute kehrt er zurück. Um seine Mutter zu besuchen, seinen Vater, alte Freunde - und nicht zuletzt diese Stadt.
Die Bustür springt auf. Wir steigen aus. Leo vorne weg, in seiner abgeschnitten Militärhose, auf dem Rücken den schweren Militärrucksack, sein langer schwarzer Haarzopf darauf wippt mit bei jedem seiner kräftigen Schritte. Er war bei der Armee im Afghanistankrieg und in Sibirien gewesen. Ich stolpere mit meinen Rollkoffer hinter ihm her. Alte Frauen stehen den Bürgersteig entlang. Verkaufen Gemüse: zwei Hände voll Tomaten, drei Salatköpfe, ein paar Kräuterbünde. Verkaufen, was sie haben. Bilden eine Reihe. Ich geh daran vorbei, sehe auf die Waren in ihren Händen. Starke Hände. Ihre Gesichter. Kräftige Gesichter.
In der Metro gibt mir Leo eine Marke. Für die Drehkreuze. 15 Stück in einer Reihe. Irgendwo hindurch, dann reihst du dich ein, in den Strom der Menschen, fließt mit, springst auf die Rolltreppe, stellst dich diszipliniert nach rechts. Steil und schnell geht es in die Tiefe hinunter. Vielleicht hundert Meter. Zweispurig. In der Mitte Lampen. Eine Kette weißer Leuchten führt nach unten. Milchiges Licht. Auf einer dritten Rolltreppe kommen Menschen entgegen. Ich sehe ihnen hinterher. Sie stehen ganz schief auf der steilen Rolltreppe. Wie Bäume im Sturm. Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Windschiefe Menschen. Und wenn dann noch einer an dir vorbeigehastet kommt, wie eine Klickerkugel die Rolltreppe hinunterholpert. Absprung. Ich folge Leo in einen Saal. Verzierte Säulen, alles ist in marmor- und bronzefarben, Kronleuchter hängen von der Decke. Festsaalbeleuchtung. Rechts und links lauter Fahrstuhltüren. Dahinter hält die Metro.
Komische kleine, runde, braune Buden überall. Kioske. Dazwischen wieder Frauen, halten in einer Kette bedruckte T-Shirts zum Verkauf in die Höhe. Drumherum das historische St. Petersburg. 100, 200 Jahre alte Bauten, fünfstöckige Wohnhäuser, braun, dreckig; Straßenbahndrähte kreuz und quer, ein Mc-Donald's-Zeichen ragt heraus. Der ehemalige Heumarkt. Hier hat Dostojewski gelebt. Wir stehen auf der breiten Treppe und sehen auf den Platz vor der Metrostation. Es ist heiß, Staub liegt in der Luft. Ein orientalischer Bazar vor europäischer Großstadt-Kulisse. Ich folge Leo mit meinem Rollkoffer über den Schwarzmarkt. Ich geh davon aus, es geht zu unserer Wohnung. Es ist nämlich alles kein Problem, wie Leo immer wieder sagt. Nur noch ein Anruf. Aber es ist niemand da. Aber auch kein Wunder, bei dem Wetter! Wir setzen uns in eine Kneipe. Russische Popmusik plärrt aus den Boxen. Wir trinken ein Starkbier. Dann müssen wir weiter. Zurück in die Metro, zum Moskauer Bahnhof. Dort gibt es eine Zimmervermittlung. Alles kein Problem.
Auf dem Bahnhofsvorplatz schiebt ein Mann mit einem Reisigbesen unermüdlich Dreck auf ein großes Kehrblech. Zwei alte Männer sitzen auf einem Mauervorsprung und unterhalten sich. Graues Haar, sonnengegerbte Haut, tiefblaue Hemden, dunkle Anzughosen. Der Schmächtigere hält eine große, schwarze Hornbrille in seinen Händen, die er beinah liebevoll betrachtete, während er erzählt. Der andere hört ihm lächelnd zu, seinem Freund den Oberkörper zugewandt. Die Arme, wie Säulen, mit geballten Fäusten auf die Mauer gestützt. Ein Reinigungswagen spritzt hupend Wasser über den Boden. Wer nicht schnell genug aufsteht, wird nass. Leo kommt zurück. Es ist nach fünf Uhr, die Zimmervermittlung am Moskauer Bahnhof hat bereits geschlossen. Wir schließen unser Gepäck am Bahnhof ein und wollen etwas essen.
Mutter, Vater und in der Mitte ein Kind - eine Kleinfamilie beim Bummel; drei junge Männer in Anzügen, die Jacken lässig über die Schulter geworfen - flanierende Yuppies; zwei junge Frauen in Sommerkleidern, jede eine Halbliter-Bierflasche in der Hand - Menschen tauchen im Gegenlicht auf. Die beiden riesigen Leuchtreklametafeln - Coca- gegen Pepsi-Cola - auf den Dächern am 'Platz des Aufstandes' vorm Moskauer Bahnhof im Rücken laufen wir ohne das schwere Gepäck den Nevskij Prospekt entlang, Richtung Neva, Richtung Meer. Endlich hat Leo jemanden erreicht, Timur, ein Freund, wartet irgendwo die Straße runter auf uns. Ein Blumenstand, ein Getränkestand, auf einem Bauchladen gibt es Zigaretten, eine Frau hält einen Stadtplan ausgefaltet in den Wind.
Am Kanal vor der Kasaner Kathedrale mit dem mächtigen Säulengang davor treffen wir Timur. Er trägt ebenfalls eine abgeschnittene Militärhose, ein langes T-Shirt schlabbert darüber und auf dem Kopf sitzt ein Basecap mit dem Schirm nach hinten gedreht. Timur gehörte auch zu Leos 'Heavy-Metall-Clique'. Er war Leos 'kleiner Bruder'. Sie haben früher zusammen Gras verkauft, Platten auf dem Schwarzmarkt, Parties veranstaltet, eine Kneipe aufgemacht - illegal, versteht sich. Timur kann uns eine Wohnung besorgen. Er muss nur kurz telefonieren. Von so was lebt er noch immer: kleinen Gefälligkeiten - eine Wohnung, Drogen, etwas auf dem Schwarzmarkt beschaffen.
Ich sehe über die Mauer aufs Wasser. Die Sonne scheint durch die Säulen auf den Kanal. Rechts von mir, erklärt Leo, seh ich die blau-weiß-grün-goldenen Zwiebelkuppeln der Auferstehungskirche, links glänzen die goldenen Flügel der vier sitzenden Greifenfiguren auf der Bankbrücke in der Abendsonne - und vor mir dieses römische Säulenungetüm. Wo hat man so etwas schon Mal gesehen? "Ich liebe diese Stadt!" sagt Leo plötzlich. Ich seh ihn an. "Ich meine, ich bin froh, dass ich nicht mehr hier leben muss. Ich bin echt froh, dass ich in Berlin lebe. Aber ich liebe diese Stadt!" Timur kommt zurück. Im Moment war besetzt, aber wir können schon die Sachen vom Bahnhof holen. Nur noch ein Anruf. Alles kein Problem.

So fing die Reise an, mit diesem Überfluss an Eindrücken, und so ging es weiter, bis zum Schluss. Zwölf Tage schlief ich mit Leo in einem kleinen Zimmer in einer Kommunalwohnung. Leo nahm mich mit zu seiner Mutter in die Plattenbausiedlung, wir besuchten gemeinsam seinen Vater, wir besuchten Freunde, gingen zusammen mit ihnen auf ein Rock-Konzerte. In der weißesten aller Nächte feierten wir zusammen das Brückenfest. Und wir feierten zusammen mit 15 Leuten und eben so vielen Flaschen Wodka in einem zehn Quadratmeter großen Zimmer einen 30. Geburtstag. Das Fenster war kaputt, und ich habe geschwitzt wie ein Schwein... "Believe!" ruft Sergej. "Believe in Jesus!" Leo winkt ab. "Ich bin Atheist. Mein Kopf ist mein Gott." "Music!" Der kahlgeschorene Tattoomeister mit dem 'Agnostic-Front'-T-Shirt lacht auf. "I believe in Music!" "Mein Gott sind die Menschen", sagt Timur neben mir. Ich seh ihn an. Er lächelt. Die Haut um seinen Mund ist ganz Weiß. Er hat überall am Körper weiße Flecken, von seiner Junk-Zeit in Amsterdam. "Ich glaube, dass irgendwo da draußen, unter den fünf Millionen Bewohnern dieser Stadt, ein Mensch ist, der mich lieben kann."
Timur, Sergej, der Tattoomeister, Lama, der in einer Band singt, Rustam, der in einem Plattenladen jobbt, Dimitri, der als Aushilfe in einer kleinen Firma arbeitet und nebenbei Motorräder repariert - es sind Leos Freunde. Junge Menschen, die kaum eine Chance besitzen, auf legale Art zu existieren und die sich trotzdem nicht korrumpieren lassen. Junge Menschen mit Wut im Bauch, gegen Moskau, gegen das System. Junge Menschen, die am liebsten ganz weit weg in die große Welt hinaus würden - und denen trotzdem nichts über ihr geliebtes St. Petersburg geht. Junge Menschen ohne Zukunft - und trotzdem voller Sehnsucht, dass irgendwo eine Liebe noch auf sie wartet. Es ist die 'Perestroika-Generation' - die russische 'Generation X'.

Aber St. Petersburg ist nicht Russland", hat Leo gesagt. "Berlin ist auch nicht Deutschland", hab ich geantwortet. Was soll's? Ich war dagewesen. Ich hab sie gesehen, diese Stadt voller Gegensätze. Wunderschöne Fassaden, von außen. Und wenn man hinein geht in die Hinterhöfe, der Geruch von Pisse, verfallene Autowracks. Kleine Schienenstücke fehlen auf den Tramgleisen. Ganz langsam geht die Tramvej in die Kurve. Der Asphalt um die Gleise bricht. Vorsichtig hoppeln die russischen Autos über die Kreuzung. Und dann plötzlich ein 500er Mercedes. Mehr Wert als alle Fahrzeuge auf dem Rest der Straße zusammen. Und auf der anderen Seite, auf der Bank der Bushaltestelle, liegt vor einer Werbetafel eine wodkakotzende Alkohol-Leiche. Gestern noch hast du selber Wodka getrunken. Das ist wie Sprengstoff. Du glaubst, du spürst plötzlich die russische Seele.
Die Ampel schaltet auf Rot, und das Taxi hält. Der Scheibenwischer quietscht. Ein Soldat läuft draußen im Nieselregen die Häuserfront entlang. Vor ihm, in einer Hinterhofeinfahrt, wühlt eine alte Frau im Müll. Es ist noch früh am Morgen. Wir sind auf dem Weg zum Flughafen. Müde sieht Leo nach draußen. Es geht zurück nach Deutschland. Leo hat Afghanistan überlebt, Sibirien - er hat diese Stadt überlebt, auch dieses Mal. In Deutschland wartet Arbeit auf ihn. Was gerade anfällt: Eine Wohnung renovieren, einen Umzug machen, Bühnenbau. Leo lebt von der Kraft seines Körpers. Noch kann er gut davon leben. "Aber ich muss regelmäßiger arbeiten", sagt er. Denn er hat nur selten Geld übrig, um es seinen Eltern zu schicken. Mit 130 Mark im Monat muss seine Mutter auskommen, mit 180 Mark sein Vater. Und das Leben in St. Petersburg ist nicht billiger als in Berlin. Die Ampel schaltet auf Grün. Plötzlich springt eine Katze aus dem Müll. Die alte Frau blickt erschrocken auf. Als sie den Soldaten sieht, wendet sie sich schamvoll ab und verschwindet im Schatten des Hinterhofs. Der Soldat läuft an der Einfahrt vorbei und weiter durch den Nieselregen die Häuserfront entlang. Er trägt eine tarnfarbene Uniform. Sie hat die Farbe der Straße.