Just the Way You are

Vor zwölf Jahren. Der Schüler Arthur fährt bei einer Spritztour den Sportwagen seines Vaters gegen einen Baum. Er bricht sich zwei Halswirbel und fällt ins Koma. Als er eines Morgens das Lied "Just the Way You are" von Billy Joel hört, weiß er zum ersten Mal wieder, wer er ist. Arthur hat eine zweite Chance bekommen.
Nicht jedoch bei seinem Vater: Der hält ihn mehr denn je für einen Taugenichts, für einen "krummen Hund". Arthur flüchtet schließlich vorm ständigen Zoff mit seinen Eltern und startet nach Berlin durch, wo das neue Leben schon auf ihn wartet. Die Mauer ist gerade gefallen. Arthur und seine Freundin Susi beginnen gemeinsam eine Fotografenausbildung und lernen jede Menge Leute, aber vor allem auch jede Menge Drogen kennen. Während Susi das ziellose Leben bald zuviel wird, flüchtet sich Arthur immer mehr in Party- und Drogenexzesse. Die Situation eskaliert schließlich, als Susi sich von ihm trennt und seine Mutter unheilbar an Krebs erkrankt...

Taschenbuch: 312 Seiten
Verlag: Eskapis-Verlag; Auflage: 1. Aufl. (Dezember 2001)
ISBN-13: 978-3980699341

Vor zwölf Jahren

Vor zwölf Jahren, als ich mit dem Riesen Hans in der Garage im FORD CAPRI meines Vaters saß, reichte meine Welt gerade Mal von einem Hügel in Hildesheim bis zum nächsten. Vor zwölf Jahren hielt ich Hildesheim für 'ne große Stadt und Kiffen für 'ne harte Droge. Vor zwölf Jahren hatte ich die tiefsten Momente, wenn ich mit Hans im Auto saß, auf dem Hügel vorm BEBOP - der Sammelstelle für alle Loser im Umkreis von 100 Kilometern -, einen Joint rauchte, "Riders on the Storm" hörte, mir den Horizont anguckte und Sehnsucht nach irgendwas Unbekanntem hatte. Irgendwas hinter dem Hügel. Egal was. Ich konnte diese Sehnsucht noch gar nicht für mich formulieren. Da wäre alles denkbar gewesen. Nur zu wissen, dass irgendwas hinter dem Hügel los ist. Irgendwas Aufregendes, Gefährliches, Schönes, was nur darauf wartete, von mir erlebt zu werden. So ein Gefühl, dass das Leben noch gar nicht richtig angefangen hat.
Vor zwölf Jahren wollte ich nur weg. Ich hatte keine Ahnung wohin. Ich wusste auch gar nicht, wie ich rauskommen könnte. Ich meine, wenn mir Leute erzählt haben, sie gehen irgendwo hin, gehen in irgend ne Stadt, zum Studieren, dann war ich meistens neidisch und beeindruckt. Aber ich für meinen Teil konnte mir das gar nicht vorstellen. Dazu war ich überhaupt nicht mutig genug. Vor zwölf Jahren wusste ich auch nicht, was ich einmal werden wollte. Ich hab mir überhaupt keine Zukunft vorgestellt. Nichts. Null!
Vor zwölf Jahren waren meine einzigen Probleme, meinem blöden Vater aus dem Weg zu gehen, meine Zensuren irgendwie auf die Reihe zu kriegen, irgendwelchen Sanktionen zu entgehen, und dann doch so geschickt wie möglich, meinen Eltern die Knete aus dem Portemonnaie zu leiern. Wie zum Beispiel, das Zeugnis zur zehnten Klasse fälschen, um dafür einen Roller zu bekommen. So einen, wie aus dem Film QUADROPHENIA, komplett verchromt und mit lauter Spiegeln dran.
Vor zwölf Jahren, als ich mit Hans, dem besten Freund den ich jemals hatte, im FORD CAPRI meines Vaters saß, zählte nur: es war ein schöner frischer Frühsommertag, und meine Eltern waren über Pfingsten beim jüngeren Bruder meines Vaters in der DDR. Sie fuhren regelmäßig in die DDR und brachten meinem Onkel und seiner Familie allen möglichen Krempel mit. Jetzt saßen sie vermutlich in der Küche, und die Familie meines Onkels jammerte ihnen einen vor, wie schlecht und wie scheiße alles ist, und sie kriegen dies nicht und das nicht. Und mein Vater erzählte, wie toll meine älteren Geschwister in ihrem Studium in Gießen vorankommen, und wie gut es mir auf der neuen Schule geht, und dass ich doch noch das Medizinstudium anstrebe. Halt voll gelogen alles. Zumindest was mich betrifft. Wie auch immer, die Gelegenheit war günstig, endlich mal mit dem FORD CAPRI meines Vaters eine Spritztour zu machen. "Halt dich fest", sagte ich zu Hans, meinem Beschützer, drehte den Zündschlüssel um und schoss mit dem Wagen aus der Garage.

Ich kam einen guten Zentimeter vor der Stoßstange vom Auto meines Bruders Peter zum Stehen. Peter stand mit seinem Wagen und meiner Schwester Inge auf dem Beifahrersitz plötzlich auf der Einfahrt zur Garage. Mein Bruder sprang aus dem Auto. Er war völlig außer sich. "Was macht ihr in Papas Wagen!" schrie er. "Steigt sofort aus! Steigt sofort aus Papas Wagen aus!" Ich stieg aus. "Was denkst du dir bloß dabei?" Mein Bruder war mittlerweile einmal um den Capri herumgelaufen und hatte sich in seinem hellblauen Hemd und seiner grauen Bundfaltenhose vor mir aufgebaut. Mit 25 setzte bei ihm bereits eine Glatze ein. Die Glatze meines Vaters. Trotzdem pflegte er eine Haartolle, die er mit viel Haarspray immer auf der fliehenden Stirn befestigte, und die jetzt - bei dem böigen Wind - ab und zu wie das Verdeck eines Cabrios hochklappte. "Wie kommst du bloß auf die Idee, dir einfach den Wagen zu nehmen? Das gibt es doch überhaupt nicht! Was denkst du dir bloß, dabei?"
Was sollte ich darauf antworten? 'Ja, scheiße, ich wollte schon immer mal mit der Schlurre fahren. Und es hat mich mal gerade angezeckt, weil keiner da war. Und das macht einfach Bock!'
"Das wird Konsequenzen haben, Arthur! Ich sag dir, das wird Konsequenzen haben!"
"Jetzt komm mal runter, Peter." Meine Schwester kam mir zur Hilfe. Sie war aus dem Auto meines Bruders gestiegen und stand hinter der geöffneten Wagentür. "Es ist doch überhaupt nichts passiert."
Peter wandte sich zu Inge. "Und wenn was passiert! Wer trägt dann die Konsequenzen, hä? Kannst du mir das mal verraten! Wer trägt dann die Konsequenzen?"
"Is ja gut, Peter", sagte ich, "ich fahr den Wagen zurück. Okay?"
"Ich fahr!" Peter stieg an mir vorbei in den Capri. Ich sah zu meiner Schwester. Sie hob die Schultern. "Wo ist der Schlüssel?" schrie mein Bruder aus dem Wagen. Hans hatte ihn. Der Schlüssel baumelte an seinem großen Finger. Hans warf mir den Schlüssel übers Dach zu, und ich reichte ihn meinem Bruder in den Wagen hinein.
Peter fuhr den Wagen zurück in die Garage und lief dann ins Haus. Er hatte die Medizinbücher, die er sich von Vater ausleihen wollte, vergessen. Deswegen war er zurückgekehrt. Damit er noch ein bisschen übers Wochenende lernen konnte. Alter Streber! Peter und Inge stiegen wieder in den Wagen und fuhren zurück nach Gießen. Meine Geschwister studierten beide dort. Als sie außer Sichtweite waren, sah mich Hans grinsend an. Er streckte die Arme aus und hielt mir seine Fäuste hin. "Rechts oder links?" fragte er.
"Links", sagte ich. Hans öffnete die Faust: darin lag der zweite Zündschlüssel für den Capri.

Wir schossen mit dem Capri über die Landstraße. Baumschatten rasten über die Kühlerhaube. Wir rauchten bei offenem Fenster einen Joint, und aus den kleinen Boxen dröhnte die QUADROPHENIA von the Who.
Das war unsere Scheibe. Das war die Scheibe, auf der wir uns getroffen haben, Hans und ich. Ich weiß noch genau, wie ich an meinem ersten Schultag auf dem Internat zu Beginn der 11.2 auf den Schulhof gefahren kam, und ich sah dieses wunderschöne Mädchen mit dem langen dunklen Haar neben diesem Riesen herlaufen. Susi. Wie ich, um Eindruck zu schinden, meinen Roller ganz knapp vor ihnen parkte, und sie fast dabei schnitt. Susi guckte mich böse an. So nach dem Motto: ,Was ist das denn für ein aufgeblasener Vollidiot!‘ Und sie wär am liebsten gleich weiter gerannt. Aber Hans blieb stehen. Er hatte sofort erkannt, dass es der Roller von Sting war, dem Hauptdarsteller in "Quadrophenia", und er war völlig begeistert davon. "Quadrophenia" war sein Lieblingsfilm, genau wie meiner. Obwohl wir keine Mods waren. Eher ein bisschen angepunkt. Wir lebten schließlich in den späten Achtzigern. Aber der Film "Quadrophenia" entsprach genau unserem Lebensgefühl damals. Wir trugen die gleiche Sehnsucht in uns. So eine Sehnsucht nach irgendwelchen tollen Momenten wie in so hochdramatischen Filmen oder in einem spannendem Roman oder irgendwelchen aufregenden Fotografien. Eine Sehnsucht nach etwas, das es eigentlich gar nicht gibt, und das du aber trotzdem zu kennen glaubst. Du hast es ja bereits erlebt, im Kino, im Roman, die Zeitschriften waren voll damit - alles hat sich längst abgespielt, in deinem Kopf, in deiner Phantasie. Und du weißt noch nicht, dass du diese Momente so gar nicht erleben kannst. Ja, dass selbst wenn du sie erleben würdest, du sie in dem Moment gar nicht so wahrnimmst. Was dann die Realität später ziemlich anstrengend machen kann, wenn du wie ein Blöder deiner eigenen Sehnsucht hinterher rennst.
Hans reichte mir den Joint. Ein ziemlicher Berg Asche hockte mittlerweile auf der Glut. Ich klopfte sie ab. Wollte ziehen, aber ich hatte aus Versehen die Glut mit abgeklopft. Sie baumelte noch an zwei, drei Tabaksfäden, dann fiel sie ganz ab und zwischen meine Beine. Brandloch! schoss es mir durch den Kopf. Auf dem Sitzpolster vom Wagen meines Vaters. Ich sah bereits sein wütendes Gesicht. Ich sprang auf. Klemmte am Gurt. Reichte Karl den Joint. "Halt mal!" schrie ich. Schnallte mich ab. Suchte die Glut unter meinem Arsch. Dann knallte es.

Ich steige aus dem Wagen. Mein Vater kommt aus der Haustür geschossen. Einen Moment lang bleibt er entsetzt vor seinem völlig zerbeultem FORD CAPRI stehen. "Was hast du gemacht, Arthur? Ich hab dich gefragt, was du gemacht hast, Junge?" schreit er immer wieder. Die ganze Stirn in Runzeln.
"Ich bin gegen einen Baum gefahren", sage ich.
"Du bist gegen einen Baum gefahren? Du bist mit meinem Wagen gegen einen Baum gefahren?" Mein Vater beugt sich mit durchgestrecktem Rücken vor und fasst sich an den Kopf. "Wer hat dir denn gesagt, dass du den nehmen kannst? Wer hat dir denn erlaubt, meinen Wagen zu fahren?"
"Niemand", sage ich.
Mein Vater baut sich vor mir auf. "Und warum hast du ihn dann genommen?" Ich sehe meinen Vater an. "Das gibt es doch gar nicht! Das gibt es doch gar nicht!" Mein Vater holt mit der Hand aus. "Du dummes Schwein!" schreit er. Ich hebe die Arme vors Gesicht. "Man, man müsste dich treten, du dummes Schwein! Sonst wohin müsste man dich treten, Arthur!" Mein Vater schlägt ein paar Mal auf meine Deckung.

O nein, dachte ich. Was hab ich bloß gemacht? Das darf nicht wahr sein. Das kann man doch noch wieder gut machen. Das muss man doch irgendwie wieder ungeschehen machen können. Vielleicht ist das alles auch nur ein Traum? Und es ist überhaupt nichts passiert. Es ist alles in Ordnung. Ich muss nur wieder weiterfahren. Ich wollte das Lenkrad greifen, wollte den Zündschlüssel umdrehen, einen Gang einlegen. Aber es entglitt mir alles.
Ich lag auf Hans Schoss. Wir waren draußen. Ich sah in sein Gesicht und dahinter war eine Baumkrone vor blauem Himmel. Wolken zogen vorbei. Und ich hörte den Wind im Geäst. Hans weinte. Er sagte auch was. Aber ich verstand es nicht mehr. Ich mochte ihn sehr in diesem Moment. Dass er der beste Freund war, hätte ich ihm gerne gesagt. Ich konnte es nicht mehr. Alles rückte immer weiter von mir weg. Das Bild vor meinen Augen atmete. In Wellenbewegungen dehnte es sich aus und zog sich wieder zusammen. Wurde immer unschärfer. Entglitt mir. Immer schneller. Es war, als würden sich meine Augen zurück in den Kopf ziehen. Ich fiel, dachte ich. Ganz unvorbereitet. So wie als Kind vom Kirschbaum. Dann war es dunkel.