Du lebst ganz und gar über mir.

"You're living all over me" ist das zweite Album der Rockband Dinosaur jr., das Cover zeigt siamesische Zwillinge, Rücken an Rücken, an den Hinterköpfen zusammen gewachsen. Während der eine zum Himmel schreit, trägt der andere seinen Bruder wie eine Last. Bonn, Ende der 80er: Auf der Suche nach einem neuen Gitarristen treffen die Zwillinge Tobias und Torsten auf die talentierte und schöne Nana. Schlagzeuger Tobias, der sich in sie verliebt, bekommt von ihr eben dieses Album geschenkt, das die Stilrichtung für die Musik der drei vorgeben soll. Als Tobias das Plattencover sieht, glaubt er sich und seinen Bruder zu erkennen. Nur wer ist wer von beiden?

Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: Eskapis-Verlag; Auflage: 2. Aufl. (Dezember 2001)
ISBN-13: 978-3980699334

INTRO

"Totti! Totti!" Ich lief. Schreiend stürzte ich durch das Labyrinth des Flurs - den Schatten meiner Mutter über mir. Eine Tür. Ich langte nach der Klinke, auf Zehenspitzen. Zweimal glitten meine Finger vom Metall, dann öffnete sich die Tür. Ein Raum: ohne Ausweg. Nur ein Tisch. Um den lief ich herum, obwohl ich wußte, daß die Flucht zu Ende war. Ich wollte, daß sie mich fängt. Deswegen lief ich davon. Und so ?el ich - oder ließ ich mich fallen? -, als sie mich packte. Und keinen Boden mehr unter den Füßen, strampelte ich, trat ich ihr in den Bauch, trat ich in ihren Busen. "Tobias, dein Bruder ist fort!"
Ich schloß die Augen. Die Gewißheit lähmte mich. Aber meine Tritte in ihren Bauch, in ihren Busen - war das alles umsonst? "Na!" schrie ich. "Na!" Und wieder, und wieder. Und mit jedem "Na!" wuchs ich, und meine Mutter schrumpfte, bis meine Füße den Boden erreichten, bis sie mich losließ, bis mich niemand mehr festhielt, bis ich allein war, in der Dunkelheit.
"Spielst du mit mir?" Ich öffnete die Augen: Es war nicht mehr meine Mutter, die vor mir stand, sondern ein Mädchen von einzigartiger Schönheit. Ihr Haar hatte die Farbe der Nacht und ihre Haut die Farbe der Wüste; ihr Mund lag im Sand wie eine Wunde, ihre Augen lagen darin wie zwei Perlen.
"Wer bist du?" fragte ich.
"Nana."
"Nana?"
"Mein Name."
"Das ist aber ein komischer Name."
"Du hast mich so genannt."
Beschämt sah ich zu Boden, dann faßte ich ihre Hand. "Und, bleibst du bei mir, Nana?"
Jetzt sah sie zu Boden und schüttelte langsam den Kopf. Ich preßte ihre Hand. "Warum nicht?"
"Es geht nicht", sagte sie leise. "Aber wir sehen uns wieder."
"Wann denn?"
"Wenn du noch mal so alt bist."
"Das versteh ich nicht", sagte ich und sah durch ihre Augen den Horizont.
"Du wirst sehen, es geht ganz schnell", hörte ich sie sagen, als ich ihre Lippen auf meiner Wange spürte. Dann sah ich sie laufen.
Ich rief ihr hinterher: "Wie finde ich dich?"
Sie blieb stehen, nicht mehr größer als der Daumen an meiner Hand. "Du mußt spielen!" rief sie. "Einfach spielen! Folge der Musik."
Als das Echo ihrer Worte mich erreichte, war sie bereits verschwunden. "Warte!" rief ich noch, "Warte …"

"Tobias!" Ich schreckte auf. Meine Mutter war über mich gebeugt.
"Wo bin ich?" fragte ich.
"Du bist zu Hause, in deinem Bett, und du hast heute Geburtstag."
"Wie alt werde ich, Mama?"
"Elf, mein Schatz."
"Erst?" Meine Mutter strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. "Mama?"
"Ja?"
"Kriege ich heute das Schlagzeug?"
"Das Schlagzeug?"
"Hast du's vergessen?" Meine Mutter schwieg. "Du hast es vergessen, stimmt's?"
"Ich habe es nicht vergessen, aber …"
"Aber was?"
"Nächstes Jahr, Tobias. Versprochen!"
"Das hast du letztes Jahr auch gesagt: nächstes Jahr. Und nächstes Jahr sagst du wieder: nächstes Jahr. Nächstes Jahr bin ich vielleicht tot!"
"Tobias!" sagte meine Mutter streng.
"Tut mir leid", brummelte ich, und als ich sah, daß sie mir verziehen hatte, flüsterte ich: "Mama?"
"Ja?"
"Ich habe wieder von ihr geträumt."
"Von Nana?"
Ich nickte. "Sie hat mir gesagt, ich soll spielen, einfach spielen."
Meine Mutter sah mich an, dann sagte sie: "Aber, Tobias. Das ist doch nur ein Traum."
Nur ein Traum, dachte ich, wo ist da der Unterschied?



ERSTE STROPHE

"Sehen Sie, das in der Mitte, das bin ich." Ich hatte mich neben sie gesetzt.
"Wo?" fragte Frau Krombach. Sie klappte vor, beugte ihren Kopf ganz nah über das Foto auf dem Wohnzimmertisch.
Ich lehnte mich zurück. "Wo ist denn Ihr Vergrößerungsglas, Frau Krombach?"
Der Oberkörper der alten Frau sprang wie eine Feder nach hinten, prallte gegen das Rückenpolster, pendelte kurz aus, dann saß sie wieder wie üblich steif in ihrem Sofa. Ihre Hände lagen zitternd in der Rockmulde zwischen ihren Oberschenkeln. "Keine Ahnung", sagte Frau Krombach. Ihre Hände hüpften dabei in die Luft. Sie lächelte mich an, wie ein kleines Mädchen, mit ihren himmelblauen Augenteichen hinter den dicken Gläsern ihrer Brille.
Ich betrachtete Frau Krombach, dieses erwachsene Kind, das viermal so alt war wie ich. Ihre einzige Tochter sagte, es läge an der Krankheit: Parkinson. Ich war da anderer Meinung: Es lag an der Tochter. Frau Krombachs Mann war schon lange tot, ihre Tochter hatte nie geheiratet; jetzt lebten die beiden allein in diesem riesigen Haus. Die Verhältnisse kehrten sich langsam um. Die Tochter war jetzt Mutter, und die Mutter das Kind.
So war das, und ich war der Kindergärtner. Und wenn ich bei Frau Krombach etwas erreichen wollte, mußte ich sie auch wie ein Kind behandeln. Es war ein Spiel; und ich war nicht hier, um die Regeln zu ändern, schon gar nicht an meinem letzten Tag. "Die Lupe, Frau Krombach. Sitzen Sie vielleicht darauf?"
"Ich weiß nicht? Gucken Sie doch mal." Frau Krombach ließ sich auf ihrem Sofa zur Seite fallen. Das machte sie sehr geschickt, sie tat sich dabei nicht weh. Warum sie das machte, weiß ich nicht. Sie hätte ja auch aufstehen können, wie sie es zum Beispiel tat, um ihren Rock zurechtzurücken. Aber nein, wenn sie auf etwas saß, ließ sie sich eben zur Seite fallen.
"Da ist sie!" rief ich und packte das powarme Ding am schwarzen Stil. Ich stand auf und hielt ihr die Lupe vor die Nase. "Sehen Sie."
Frau Krombach lächelte verlegen. "Helfen Sie mir bitte wieder hoch?" Was würde sie wohl machen, wenn ich es nicht täte, dachte ich, doch dann beugte ich mich zu ihr runter und richtete sie wieder auf. "Puh, geschafft", sagte sie strahlend.
Dieses Lächeln: ein richtiger Backfisch. Ich konnte sie vor mir sehen, im knielangen Röckchen, mit blonden geflochtenen Zöpfen - wie sie halt so herumliefen zu der Zeit, als Onkel Adolf kam.
Ich setzte mich wieder neben sie auf das Sofa und schob das Foto zwischen uns auf den Tisch. Es war ein großes Schwarzweiß-Foto, von unserem ersten Auftritt. Es war ein starkes Bild. Wir sahen aus wie Rockstars. Ich gab Frau Krombach die Lupe. "Da sind Sie ja!" sagte sie.
"Wo? Nee!"
"Wollen Sie mich veräppeln, das sind doch Sie."
"Nein, das ist Torsten, mein Bruder."
"Ihr Bruder? Der sieht ja genauso aus wie Sie!"
"Wir sind Zwillinge, aber er hat kurze Haare, und ich habe lange Haare. Und sehen Sie, er spielt Baß und nicht Schlagzeug."
"Ach, so ist das", sagte Frau Krombach.
"So ist das."
"Was sagten Sie, spielt er?"
"Baßgitarre. Sie wissen doch, was ein Kontrabaß ist?" Frau Krombach nickte. "So ähnlich klingt eine Baßgitarre, wenn man keinen Verzerrer oder sonstwas daran anschließt. Also, das hier rechts ist Nana. Sie spielt E-Gitarre und singt."
"Nana? Ach, das Mädchen, von dem Sie mir mal erzählt haben. Die spielt auch mit? Zeigen Sie mal." Frau Krombach beugte sich tief über das Bild. "Das ist aber wirklich ein hübsches Mädchen."
"Ja." Ich schob das Bild unter der Lupe weiter. "Und das hier bin ich!"
"Wo?"
"Na hier!"
"Ich seh nichts."
"Da ist mein Kopf!"
"Seh ich nicht."
"Zeigen Sie mal!" Ich nahm Frau Krombach die Lupe ab. "Ich geb zu, ich bin schwer zu erkennen, aber glauben Sie mir: Das bin ich. Hinter dem Schlagzeug. Sehen Sie! Hier, die Trommeln und die Becken. Das ist das Schlagzeug, dahinter sitze ich."
"Das ist das Schlagzeug?"
"Das ist das Schlagzeug."
"Und das alles spielen Sie allein, all die Trommeln und Becken?"
"Richtig."
"Das ist ja ein Ding", sagte sie.
"Und ob das ein Ding ist", sagte ich.
Frau Krombach betrachtete staunend das Foto. "Und wenn Sie heute abend spielen, dann sieht das genauso aus?"
"Genau so. Wenn Sie wollen, schenk ich Ihnen das Bild."
"Aber Sie brauchen es doch sicher noch?"
"Ach was", log ich, "zu Hause hab ich die ganze Wand voll damit. Sie können es haben."
"Danke", sagte Frau Krombach, "das ist aber nett von Ihnen."
Ich winkte ab; ich wollte nicht, daß Sie auf die Idee kommen könnte, ich würde sie mögen oder so. "Soll ich Ihnen was vorlesen?" fragte ich und war schon aufgestanden, um den Kleist aus dem Bücherregal zu holen.
Frau Krombach war ganz versessen auf den guten Kleist. Sie besaß eine Ausgabe von der Größe eines Telefonbuchs. Angeblich waren darin seine sämtlichen Novellen versammelt - ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Bevor ich Frau Krombach kennenlernte, kannte ich nur diese gruselige Geschichte mit dem Bettelweib. Wir hatten sie mal in der Schule gelesen. Doch jetzt las ich Novelle für Novelle. Und das dauerte, denn Frau Krombach schlief regelmäßig dabei ein, was ich regelmäßig zu spät bemerkte, so daß ich ihr den gesamten Kleist gleich zweimal vorlas. 2000 Seiten Kleist in weniger als drei Monaten. Das war eine ganze Menge Kleist.
Ich holte also den dicken Kleist aus dem Regal und las, bis ich merkte, daß Frau Krombach eingeschlafen war. Es war die letzte Novelle in dem Buch, und ich hätte sie gerne zu Ende gelesen an meinem letzten Tag, der Vollständigkeit halber. Aber ich war zu müde, und so blätterte ich nur bis zu den Bildern vor. Jede Novelle enthielt eine zweiseitige Illustration, kleine Aquarellbilder mit kurzen Erläuterungen oder Zitaten. Ich betrachtete jetzt die letzte Zeichnung. Ein einsamer gealterter Kleist. Aber das war gar nicht so interessant, sondern das, was darunter stand: "Es steht ein Grab dort unten in Bayern, und wenn es Winter wird, Schnee fällt tief darauf."
Ich schloß die Augen. Armer Kleist, dachte ich. Dieser eine Satz ist noch düsterer als alle deine Novellen. So viel Trauer, dachte ich, in einem Satz, am Ende eines Lebens. Und ich dachte an den Auftritt am Abend, an die Musik, an Nana. Und ich dachte: Es steht ein Grab in meinem Herzen, und wenn es Winter wird, Schnee fällt tief darauf.
· · ·

Josef Haslinger, Bestsellerautor von "Opernball" und Lektor von "Du lebst ganz und gar über mir",
über den Roman:

Ein Liebeslied?

Liebeslieder werden zuhauf produziert. Sie sind zweifellos die populärste Form von Lyrik. Jene kalifornische Radiostation, die ihr Programm rund um die Uhr mit Love-Songs gestaltet, wird so schnell nicht in Not kommen. Das darin ausgedrückte Gefühl wird gerne nachvollzogen. Die Metaphorik der Liebeslieder ist in die Alltagssprache übergegangen. Man denke nur an das Wort Herz. Ein Organ, das tatsächlich nur bei Überlastung oder Missfunktion zu spüren ist, wurde zum zentralen Empfindungsorgan der Liebe stilisiert. Zeitgenössische Dichter stehen mit populären Formen häufig auf Kriegsfuß. In Zusammenhang mit Liebe würde ihnen das Wort Herz nicht über die Lippen kommen. Und wenn doch, dann nur in ironischem Zusammenhang, als Zitat aus den Niederungen der Alltagskultur. Felix Mennen aber beendet sein Werk mit dem Satz: "Es steht ein Grab in meinem Herzen, und wenn es Winter wird, Schnee fällt tief darauf." Auch das ist ein Zitat. Aber die Erkenntnis bringt nichts, weil der Erzähler ausgerechnet das Wort Herz hineingemogelt hat. Hier stellt sich offensichtlich einer quer.
Das Lied, so sagt man, hält sich an strengere ästhetische Gesetze als ein Roman. Es folgt metrischen Formen, kennt den Vers, die Strophe, den Refrain und oft genug auch den Endreim. In der Prosa von Felix Mennen sind die Kapitel überschrieben mit Begriffen wie Intro, Strophe, Intermezzo und Solo. Auch wenn man diesem aus der Musik übernommenen Gliederungsschema eine inhaltliche Strukturierung zuordnen kann, ist die Prosa damit noch kein Lied. Sie ist ein Roman, wenngleich einer, der sich abgrenzen will, der ein ästhetisches Signal setzt. Während der zeitgenössische Roman immer stärker aus kohärenten Formen hinausstrebt, ja selbst der durchgängigen Erzählerstimme misstraut und an ihre Stelle ein multiperspektivisches Patchwork setzt, orientiert sich Felix Mennen bewusst wieder am traditionellen Modell der Geschlossenheit. Was am Beginn eröffnet wird, und sei es die Symbolik eines Traumes, darf in der weiteren Folge nicht einfach verloren gehen. Motive die aufgenommen werden, finden im Verlauf des Geschehens immer neue Nahrung, immer neue Wendungen. Dabei ist der Roman keineswegs geschwätzig. Im Gegenteil, er folgt unprätentiös und nüchtern den Szenen einer Liebesgeschichte im subkulturellen Milieu einer Rockband in den späten achtziger Jahren. Es liegen Splitter von Märchenhaftem in diesem Roman. Nicht im Sinne eines übernatürlichen oder wunderbaren Geschehens, vielmehr in der Erwartungshaltung und im Horizont des Ich-Erzhlers. Der hat keinerlei Ambition, anderen Leuten die Welt zu erklären. Er gewinnt seine Glaubwürdigkeit, indem er seine Geschichte exakt als der erzählt, der er ist: Als Schlagzeuger in einer Rock-Band, der sich nicht mit Philosophie, Literatur oder gar Politik beschäftigt, sondern mit Pop-Songs und den darin artikulierten Träumen vom Glück. Es sind die Ausdrucksweisen dieser Kultur, die dem Roman den formalen Rahmen geben, seinem Erzähler den Ton. Die Enttäuschung, die am Ende dieser Geschichte steht, will nicht analysiert oder aufgearbeitet sein, sie will durchs Land hallen wie der Refrain eines Pop-Songs.
Also doch ein Liebeslied? Ja, könnte man antworten, eines mit anderen Mitteln.

Allegra, 01/2000

Allegra Special, 05/2000

kulturnews (bs)

Scheinschlag, 01/2000, Claudia Gabler

Nachtkultur - LESELUST, WDR-Fernsehen, 12/1999, Inge Clemens